“Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten”
Sommer 1961. Wie häufig in den letzten Jahren verbrachte ich einen großen Teil der großen Ferien bei meinen Großeltern in Berlin Wilhelmshagen. In deren Garten hatte ich nie Langeweile: Obst naschen – der Gravensteiner-Apfel begann gerade reif zu werden – , Unkraut jäten – was ich nur widerwillig tat – , mit Peter, der Katze, zu spielen, selbst schaukeln an der Klopfstange machte mir zur damaligen Zeit noch Spaß. Höhepunkte für mich waren jedoch Ausflüge, die ich mit Omi oder Opi unternahm: Dampferfahrt auf der weißen Flotte zum Müggelsee oder Richtung Erkner und besonders den Besuch der Trabrennbahn Karlshorst mit anschließendem Eisessen (Eine Waffel für 10 Pfennige, eine Muschel für 15 Pfennige!). Richtig erwachsen kam ich mir vor, wenn ich mit Opi zu seiner Arbeit in der Brauerei Bürgerbräu in Berlin Friedrichshagen fuhr: Um 5 Uhr aufstehen, mit der S-Bahn zur Brauerei, Zuschauen wie das batteriebetriebene Gefährt beladen wurde und dann auf dem Beifahrersitz hockend die einzelnen Gaststätten anliefern. Und an jedem Halt gab es für mich eine Brause, während Opi dem Bier zusprach!
Doch leider neigten sich die Ferien dem Ende zu, sodass ich mit den Großeltern am 12. August, einem Samstag, zu meinen Eltern nach Berlin Wilmersdorf fuhr. In Gedanken ratterte ich die einzelnen S-Bahn Stationen runter und schaute aus dem Fenster. Ostkreuz in den Ring umsteigen, zwischen hier und der nächsten Station war Treptower Park betraten Volkspolizisten – so war die offizielle Bezeichnung der Polizei in der DDR, wir nannten sie Vopos – und machten stichpunktartige Personal- und Gepäckkontrollen; einige Mitfahrer wurden auch zum Aussteigen und einer gründlichen Kontrolle genötigt. Diese Kontrollen hatten in letzter Zeit zugekommen, sicher auch den steigenden Flüchtlingszahlen geschuldet, denn in den westlichen Medien (u.a. die Rundfunkstationen RIAS und SFB) wurden täglich neue Höchstzahlen, die in die Tausende gingen, gemeldet.
Zu Hause spielte ich mit meiner geliebten elektrischen Eisenbahn, hörte im Radio die Berichte aus den Fußballspielen der Regionalligen – die Bundesliga wurde erst im darauf folgenden Jahr eingerichtet – und kiebitzte bei den Erwachsenen, während sie Doppelkopf spielten.
Am nächsten Morgen, ich war wie immer recht früh wach, hörte ich die aufgeregten Stimmen meiner Eltern. Mein Vater machte wie immer früh das Radio am Nachtisch an und erfuhr aus den Nachrichten, dass die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin seitens der DDR gesperrt worden sei. Dies war an sich nichts beunruhigendes, denn schon oft war die Insel-Halbstadt Behinderungen und Schikanen ausgesetzt. Was aber zur Besorgnis Anlass gab, war die Ostentation und das Brachiale der Maßnahme: Im Fernsehen, es gab nur ein Programm – abgesehen von einem „Ost-Sender“ – in schwarz-weiß gesendet, war zu sehen, wie Stacheldraht quer über die Straße gelegt und der Asphalt aufgerissen wurde. Darüber hinaus standen Angehörige der Volksarmee, so wurde die Armee in der DDR bezeichnet, der Volkspolizei und der Betriebskampfgruppen – darunter auch mein Onkel als Mitglied der Feuerwehr, wie ich später erfuhr – dicht an dicht an den Verbindungswegen. Ferner war der Nahverkehr zwischen Ost und West unterbrochen bzw. Züge fuhren ohne Halt im anderen Teil der Stadt. Auf beiden Seiten der Grenze sah man Personen, die staunend, wütend und ratlos die zunehmende Abriegelung betrachteten. Die Politiker des Westens schienen davon überrascht worden zu sein, denn man hörte und sah nichts von ihnen.
Eltern und Großeltern beratschlagten währenddessen, wie man mit dieser Situation umgehen solle, schließlich lebten Omi und Opi im Ostteil der Stadt und hätten dementsprechend die nun abgeriegelte Grenze zu überqueren. Es stand nach meinen Beobachtungen für alle außerfrage, dass sie zurückgehen würden: So schlimm wird es schon nicht werden, man hätte ja schon andere Situation er- bzw. überlebt und diese Abriegelung sei ja nur von kurzer Dauer, zumal die Amis dies sich nicht gefallen lassen würden.
Folgerichtig machten sich meine Großeltern am Sonntagnachmittag auf den Heimweg. In den darauf folgenden Tagen war die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin weiterhin in eine Richtung offen: So konnten wir die Großeltern und andere Verwandte nach eingehender Kontrolle über festgelegte Grenzübergänge noch einmal besuchen. Diese Begegnung war sehr bewegend, auch für mich als 11 Jähriger: Alle weinten, denn es war klar, dass sich an dieser Situation so schnell nichts ändern werde.Eine tiefe Hoffnungslosigkeit überfiel uns, bei mir mit dem drohenden Verlust meiner zweiten Heimat verbunden.
Als die DDR auf einigen S-Bahnhöfen – die Deutsche Reichsbahn und damit die S-Bahn waren in Groß-Berlin in Besitz und unter Verfügungsgewalt der DDR – eine Art Visastellen einrichtete, wo Berechtigungen zum Besuch der DDR ausgegeben werden sollten, kochte die „Volksseele“ der West-Berliner über und zerstörte diese Einrichtungen, worauf der Besuch zwischen den beiden Stadthälften für Jahre unterbrochen war.
Views: 635
Schreibe eine Antwort