Offizielle Sicht
Mit dem Passierscheinabkommen vom 17. Dezember 1963 konnten 28 Monate nach dem Mauerbau West-Berliner über Weihnachten 1963 wieder ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen. Vom 19. Dezember bis zum 5. Januar kamen etwa 1,2 Millionen Besuche von insgesamt über 700.000 West-Berlinern zustande. Insgesamt handelten Vertreter des West-Berliner Senats und der DDR “ungeachtet der unterschiedlichen politischen und rechtlichen Standpunkte” von 1963 bis 1966 vier Passierscheinabkommen aus, die teilweise noch größere Besucherzahlen zur Folge hatten. Bis 1972 – im Zuge des Berlin-Abkommens und weiterer Verträge – gab es dann keine weiteren Besuchsmöglichkeiten für Westberliner; Ausnahmen waren lediglich Anträge auf Passierscheine in dringenden Familienangelegenheiten.
Meine Sicht
Wenn ich mich an dieses Ereignis erinnere, dann erscheinen vor meinem Auge die riesigen Menschenmassen, die sich am S-Bahnhof Friedrichstraße stauten. Durch ein Labyrinth von Gängen wurden wir auf den Vorplatz des Bahnhofs geschleust, wo zahlreiche Kontrollhäuschen errichtet worden waren. Nach relativ kurzer Wartezeit und einer recht oberflächlichen Personen- und Zollkontrolle- verglichen mit späteren Vorgängen- konnten meine Eltern und ich unsere Fahrt auf der vertrauten S-Bahnstrecke nach Wilhelmshagen fortsetzen. Dort erwarteten uns meine Großeltern (mütterlicherseits) sowie mein Onkel mit Frau und Tochter.
Die Erwachsenen weinten vor Freude nach der jahrelangen Trennung, und auch ich freute mich meine Großeltern wiederzusehen- Omis Mürbeplätzchen, die Katze Peter, die Gemütlichkeit der kleinen Stube, der Keller mit seinem muffigen Geruch alles war so vertraut. Nichts schien sich verändert zu haben.
Dieses Gefühl stand im krassen Gegensatz zu dem Zeitraum der Trennung, während dem ich die Abwesenheit meiner Großeltern nur partiell – z.B. an Geburts- und Feiertagen- vermisste; zur sehr war ich zu jener Zeit mit meinem Leben beschäftigt, dem Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium, die Entdeckung des anderen Geschlechts und der eigenen Sexualität.
Sicht Anderer
“28 Monat nach der Teilung unserer Stadt wurde uns Westberlinern die Möglichkeit gegeben, unsere Angehörigen in Ostberlin zu besuchen. Der Antrag dafür war mit langer Wartezeit verbunden. Ich begab mich früh (Ergänzung: gegen 8:00 Uhr} zur Schule in der Emser Straße, stand zuerst bei Kälte (Ergänzung: Dezember) auf dem Schulhof. Später wurden wir ins Treppenhaus geführt, und die letzten Stunden verbrachten wir in einem Klassenraum. Um 17:00 Uhr kam ich in die Turnhalle, wo die Ostpostler unsere Anträge entgegennahmen. Wie glücklich war ich, dass es noch geklappt hatte, denn es gab das Gerücht, dass die Postler um 17:00 Uhr Feierabend machen würden.” (Erinnerungen meiner Mutter an dieses Ereignis)
(Egon) Bahr hat eine familiäre Erinnerung an das erste gemeinsame Berliner Weihnachten nach dem Mauerbau. Er besuchte eine Tante in Köpenick, bekam eine mächtige Gans vorgesetzt und aß sich satt. Wie das denn möglich sei? “Na”, antwortete die Tante, “du glaubst wohl auch, dass wir hier alle am Hungern sind?” Was keineswegs der Fall war, auch wenn es an sehr vielem mangelte.
An den Übergängen spielten sich herzzerreißende Szenen ab. Denn das Glücksgefühl war immer vom Wissen getrübt, dass eine Wiederholung vorerst nicht in Aussicht stand. Auch Bahr war skeptisch: “Wir hatten das Gefühl, dass die DDR nach dem ersten Abkommen hart bleiben würde.”
Ein einseitiger Blick, denn auch Bonn ging auf Gegenkurs. “Die Berliner nehmen die Sicherheit von den Amerikanern, das Geld von Bonn und die Passierscheine von Ulbricht”, schimpfte Rainer Barzel, CDU-Fraktionschef im Bundestag, und Franz Amrehn, Berliner CDU-Vorsitzender, nannte die Regelung “unwiederholbar”.(Tagesspiegel, 19.12.13)
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